Urbane Produktion: Das Comeback der Manufaktur und Stadtfabrik
TEXT: Dr. Michael Schuricht
Die weltweite Vernetzung war zu keinem Zeitpunkt der Geschichte größer als jetzt. Jedes Jahr reisen mehr als eine Milliarde Menschen geschäftlich oder privat in ein anderes Land. Güter und Dienstleistungen werden global getauscht und Energie wird weltweit transportiert.
Globale Wertschöpfungsketten bestimmen unser Wirtschaftsgeschehen. Mit dem Ziel der Effizienzsteigerung und Kostenreduktion lagern Unternehmen immer mehr Prozesse aus. Bereits in den 1990er und 2000er Jahren erlebten wir einen wahren Boom des Offshorings und Outsourcings. Sinkende Transportkosten, die zunehmende Digitalisierung und der Abbau von Investitions- und Handelshemmnissen trugen maßgeblich dazu bei. In globalen Wertschöpfungsketten können Unternehmen von niedrigen Lohnkosten und durch Spezialisierung ausgelöste Skaleneffekte profitieren.
Besonders deutsche Unternehmen sind international stark vernetzt. Fast ein Viertel der Gesamtwertschöpfung Deutschlands findet im Ausland statt. Damit liegt der Anteil leicht über dem anderer EU-Länder (23% in Frankreich) und sogar weit über dem der USA (12%). Betrachtet man die Verteilung über verschiedene Branchen, zeichnet sich ein differenziertes Bild. Gemäß dem Institut der deutschen Wirtschaft, ist die internationale Vernetzung von Wertschöpfungsketten in Bereiche, wo es einer starken Spezialisierung (wie z.B. Elektronikindustrie) oder Zugang zu speziellen Rohstoffen (wie z.B. in der Chemieindustrie) bedarf, besonders hoch.
Die Aufteilung und Verlagerung der Produktion bringt für Unternehmen viele Vorteile aber auch Gefahren mit sich. Mit steigender Vernetzung nimmt die Abhängigkeit von anderen Unternehmen, Ländern und Wirtschaftssystemen zu. In unsicheren Zeiten, wie der Finanzkrise 2008 oder der aktuellen Corona-Krise, beobachten wir deshalb immer häufiger Initiativen Wertschöpfungsketten zu deglobalisieren und Verflechtungen zurückzufahren.
Der Trend
Auch verbraucherseitig ist ein zunehmender Trend zur neuen Lokalität festzustellen. Immer mehr Konsumenten wollen wissen wo, wie und von wem Produkte hergestellt wurden sind. Ihr Wunsch nach Individualität, ihre gestiegenen Qualitätsansprüche sowie ein wachsendes Bewusstsein für Ökologie und soziale Gerechtigkeit schafft einen neuen Markt für Produkte aus der eigenen Stadt.
Städte erleben im Moment nicht nur eine Renaissance als Wohnraum, sondern auch ein Comeback der Handwerkskunst und urbanen Produktion. Die Rückkehr der urbanen Industrie und Landwirtschaft aber auch eine wachsende Anzahl von Kleinunternehmen und Manufakturen belebt die urbane Arbeitswelt und eröffnet vielfältiges Entwicklungspotential für den städtischen Raum. Es entstehen neue Produktionsstätten, die eine wachsende Nachfrage nach nachhaltig produzierten Produkten in neuen Nischenmärkten bedienen. Offene Werkstätten (sog. Makerspaces/FabLabs) und Co-Working-Einrichtungen bieten die Möglichkeit Produktionsmittel und Fachkompetenz zu teilen.
Urbane Produktion kann vielfältig sein. Eingebettet in lokale Wertschöpfungsketten nutzt sie vornehmlich lokale Ressourcen, um materielle Güter herzustellen. Grundsätzlich unterscheiden wir folgende Arten der Urbanen Produktion:
- Urbane Fabrik stellt große Stückzahlen, arbeitsteilig mit Maschinen her. Neue technische und architektonische Entwicklungen (wie z.B. Stockwerkfabriken) helfen Flächen zu sparen und Nutzungskonflikte im urbanen Raum zu reduzieren. Die Industrie 4.0 vernetzt kleine Betriebe, schafft lokale Netzwerke und hilft urbane, industrielle Wertschöpfungsketten herzustellen.
- Urbane Manufakturen sind kreative Klein- und Kleinstbetriebe, die Einzelstücke oder geringe Stückzahlen einer Produktserie herstellen. Im Zuge der Digitalisierung nutzen sie CNC-Maschinen, 3D-Drucker oder computergesteuerte Brotformmaschinen, um den handwerklichen Arbeitsaufwand zu reduzieren. Sie sind oft gemeinschaftlich organisiert und nutzen offene Werkstätten, FabLabs oder Coworking-Spaces, um ihren Investitionsaufwand zu reduzieren.
- Urbane Landwirtschaft erzeugt nachwachsende Rohstoffe und/oder Lebensmittel im Stadtgebiet. Sie nutzt neue Bewirtschaftungskonzepte (wie z.B. vertikale Farmen), um ausreichende Erträge auf kleinstem Raum sicherzustellen. Im Verbindung mit einem Direktvertrieb schafft sie Kundennähe und ein nachhaltiges Einkaufserlebnis.
Urbane Produktion schafft eine Win-Win-Win-Situation für Konsumenten, Unternehmen und den städtischen Raum. Die Lebensqualität in städtischen Quartieren wird signifikant erhöht. Es entstehen neue Formen des Austauschs und der Partizipation. Konsumenten haben die Möglichkeit Wertschöpfungsketten besser nachzuvollziehen. So profitieren von direkten Ansprechpartnern und einer höheren Qualität. Unternehmen erhöhen ihre Sichtbarkeit für Arbeitnehmer und nutzen das lokale Fachkräftepotential.
Drei Beispiele
Urbane Fabrik: Hafenkäserei Münster
Ann-Paulin Söbbeke führt mit der Gründung der Schaukäserei im Jahr 2014 die Familientradition der Käseherstellung in 4. Generation weiter. Beheimatet im Münsteraner Hafen werden in der Hafenkäserei verschiedene Käsespezialitäten hergestellt. Neben dem Produktionsbereich umfasst die Schaukäserei auch einen Gastronomiebereich, der u. a. für Veranstaltungen gebucht werden kann. Die Käserei kooperiert mit einer lokalen Brauerei aus Münster und unterstützt dadurch lokale Wertschöpfungsbeziehungen.
Weitere Informationen: https://hafenkaeserei.de/
Urbane Manufaktur: Olson & Hekmati
OLSON & HEKMATI ist heute eine der bekanntesten deutschen Longboardmarken. Aus purer Leidenschaft und Neugier entwickeln und bauen die Mainzer Oliver Dehmel und Björn Hekmati seit 2007 Custom-Made-Boards in ihrer Manufaktur. Über ihren Shop „Asphaltinstrumente“ verkaufen sie ihre handgefertigten Unikate in die ganze Welt. Ihre Werkstatt im Zentrum von Mainz ist nicht nur Arbeitsplatz, sondern auch Event-Location und Treffpunkt von Board-Liebhabern aller Art.
Weitere Informationen: http://olsonhekmati.de/
Urbane Landwirtschaft: Le Champignon Urbain (Der Stadtpilz)
In einer kleinen Kapelle in der Innenstadt von Nantes produzieren Philippe, Romain und Camille Austern-Pilze und Shiitake-Pilze — auf Blöcken aus Stroh, Kaffeesatz und Treber aus Brauereien, welche sie an lokale Supermärkte und Restaurants, auf lokalen Märkten oder an drei Tagen die Woche direkt am Produktionsort verkaufen. Damit zeigen sie, dass es möglich ist qualitativ hochwertige, lokale Lebensmittel herzustellen die mit einer — insb. Im Vergleich zu importierten Lebensmitteln — geringen Umweltbelastung und einer starken Identifikation mit dem Produkt einhergehen.
Weitere Informationen: https://www.lechampignonurbain.fr
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Hinweis zur Praxisrelevanz
Innovatoren erreichen mehr Umsatz und Gewinn, neue Kunden und Märkte. Trends früh erkennen, daraus Bedürfnisse richtig und rechtzeitig ableiten, neue Lösungen zum Erfolg entwickeln — das ist ihr Geschäft. Sie arbeiten intern im Netzwerk und extern mit Partnern. Marketing und Vertrieb sind früh eingebunden. Innovationen beginnen mit Ideen und gelingen durch strukturiertes Management.